Design & Praxis, Bildbearbeitung

Lieblingsschriften - Schriften sind dem Zeitgeist unterworfen

07.05.2019

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Ralf Turtschi: Ich werde schon mal gefragt, welches denn meine Lieblingsschriften seien. Lieblingsschriften? Etwas säuerlich versuche ich dann jeweils, die gut gemeinten Small Talks zu umgehen: «Da gibt es einige, und arm ist, wer nur eine hat!» Eigentlich ist die Frage unqualifiziert, und wer sich intensiv mit guten Schriften beschäftigt, wird das bestätigen können. Es ist vergleichbar, wie wenn man nach den besten Schuhen aller Zeiten fragt, und die Verkaufszahlen als Grundlage hinzuzieht. Wenig erstaunlich machen Flip-Flops das Rennen, die Gummilatschen, die in aller Welt getragen werden. Nun wird niemand in Flip-Flops ernsthaft versuchen, eine Wandertour in felsigem Gelände zu unternehmen. Die sind dafür gänzlich ungeeignet.

Genauso dümmlich verhält es sich mit der Frage nach Lieblingsschriften oder Rankings wie Fontshops «Die 100 besten Schriften aller Zeiten ». Zehntausende Schriften einfach so in einen Topf zu werfen und sie zu raten, ist etwas merkwürdig. Auch wenn sie nach Verkaufserfolg (40%), historischer Bedeutung (30%) und ästhetischer Qualität (30%) gewichtet werden. Auch wenn sogenannte Experten mitmischen, die Clarendon, Bembo und Bodoni zu ihren Lieblingen erklären. Ich sag es mal vorsichtig: Im Bleisatz stehen geblieben …

Eine Handschrift erfüllt einen anderen Zweck als eine Zeitungsschrift; eine plakative Schrift ist wiederum ganz anders zu werten als eine Hausschrift, die möglichst einfach im Gebrauch sein soll. Wunderlich nur, dass die Arial als die wohl am meisten verbreitete Schrift nicht im Ranking auftaucht.

Mindestens sollte man versuchen, Schriftenrankings in bestimmte Gebrauchsklassen einzuteilen, auch wenn dies nicht ganz einfach ist. Fonts können heute so ausgebaut werden, dass unzählige von Schriftschnitten viele Bedürfnisse abdecken. Sie bilden ganze Schriftfamilien mit und ohne Serifen, als Slab, kursiv und gerade stehend, von hairline bis extrafett. Es gibt Designbedürfnisse, die sich gerne auf eine solche Grossfamilie stützen, aber auch andere, wo nur gerade ein Schriftschnitt prägend wirkt. Schriften werden auch mal für ein Unternehmen gezeichnet (Audi, VW, Siemens, SFR) und sind nicht öffentlich erhältlich. Sie und Fonts anderer Foundries aus den Rankings zu verbannen, ist etwas anmassend, wenn man das prätentiöse Attribut «beste» verwendet. «Historische Bedeutung» und «Verkaufserfolg » haben eher wenig mit heutigen Bedürfnissen zu tun und lassen den Suchenden im Regen stehen.

«Flip-Flops sind die besten Schuhe, so wie die Helvetica die beste Schrift ist.»

Nun, Rankings oder Lieblingsschriften von Designern sind nun mal da und machen auch Spass, man kann sich über deren Ansichten amüsieren oder den Kopf schütteln. Wer aber solches für bare Münze nimmt und als Grundlage für Kaufentscheide wertet, der hat nicht verstanden, was Schriften zu leisten vermögen. Wer «Die 100 besten Schriften aller Zeiten» als Kaufargument einsetzt, hat höchstens Gewähr, dass er sich mit Mitbewerbern im gleichen Boot befindet und sich weniger hervortun kann. Die UBS, die Post und Sunrise haben wohl zusammen so viele Frutiger- Lizenzen, dass andere Schriften im Kriterium «Verkaufserfolg» gleich einpacken können. Nun, was viele wählen, kann nicht falsch sein – ist aber sicherlich ausgelutscht. Nichts an dieser Tatsache ändert sich, wenn die Frutiger nun zum zigsten Mal neu aufgelegt und neu benannt wird.

… Ab auf den Datenfriedhof!Wenn Designer ihre Liebhabereien als Vorbild präsentieren, kann das durchaus als Inspirationsquelle dienen, diese Schriften genauer anzusehen und in eine Evaluation miteinzubeziehen (oder auszuschliessen).

Bedürfnisse

Man sucht nicht unspezifisch eine Schrift, sondern eine, die bestimmte Bedürfnisse erfüllt. «Sie soll weltweit in allen Sprachen zur Verfügung stehen », ist ein ganz anderes Bedürfnis als «Sie soll klein auf Verpackungen gut leserlich sein». Dass Schriften alle Bedürfnisse gleichermassen befriedigen, glauben selbst die Schriftdesigner und -verkäufer nicht, obschon solcher Unsinn immer wieder angepriesen wird. Eine gute Leseschrift wird kaum die gleichen Qualitäten als Headlineschrift für die Boulevardpresse aufweisen. Wenn jemand also nach Lieblingsschriften fragt, dann kann es immer nur um einen bestimmten Bereich gehen: eine Leseschrift oder Titelschrift für Bücher, Magazine oder Zeitungen, eine Schrift, die sich kleingedruckt gut lesen lässt, ein Corporate-Font, der ein unverwechselbares Corporate Design unterstützt, oder vielleicht eine Schmuckschrift, die nur als Headline in Erscheinung tritt.

Das Adjektiv «beste» (Schrift) ist insofern irreführend, da jede Schrift in sich wieder Vor- und Nachteile aufweist. Es gibt Schriften, die haben sehr schöne Buchstaben aber – wie ich meine – grottenhässliche Ziffern. Eine andere Schrift finde ich durchaus ästhetisch, nur das kleine a ist miserabel gestaltet. Noch eine andere ist zwar adrett, es gibt aber keine kursiven Schnitte. Welche Schrift ist nun die «beste»? Man präferiert Vorteile und nimmt Nachteile in Kauf. Man wünschte sich eine bessere Differenzierung und weniger Populismus.

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Quelle / Autor: Ralf Turtschi
Thema: Design & Praxis
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